Eine Region aus den Fugen
Der Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien eskaliert gefährlich. Wenn keine nachhaltige Sicherheitsarchitektur für die Region entwickelt und implementiert wird, ist die nächste, noch viel größere Eskalation nur eine Frage der Zeit.
Das Jahr 2016 begann mit zwei Paukenschlägen in der Dreiecksbeziehung zwischen Iran, Saudi-Arabien und dem Westen: einerseits mit einem neuen Tiefpunkt in den ohnehin angespannten saudisch-iranischen Beziehungen und andererseits mit dem Beginn einer Normalisierung der iranisch-westlichen Beziehungen nach der erfolgreichen Implementierung des Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA) am 17. Januar.
Am 2. Januar ließ Saudi-Arabien – aus innen- und außenpolitischer Bedrängnis – den schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr mitsamt weiteren 46 als Terroristen gebrandmarkten Oppositionellen hinrichten. Die im Anschluss von einem Mob von Ultra-Hardlinern begangenen Angriffe auf diplomatische Vertretungen Saudi-Arabiens in Iran wurden von Riad mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Teheran beantwortet. Zugleich nötigten die Saudis ihre Verbündeten wie Bahrain und Sudan, dasselbe zu tun. Derweil kündigte das iranische Staatsoberhaupt Ayatollah Ali Khamenei „göttliche Rache“ an und veröffentlichte auf seiner Website eine Karikatur, die saudische Henker mit denen von Daesh/IS gleichsetzt. Irans Präsident Hassan Rohani wiederum mahnte bei einem Treffen mit dem dänischen Außenminister Kristian Jensen in Teheran, er hoffe, „dass europäische Staaten, die ja stets auf Menschenrechtsthemen reagieren, dies auch in diesem Falle tun werden“.
Hardliner fürchten um ihre Pfründe
Die harsche Kritik aus Teheran an den verabscheuungswürdigen Massenhinrichtungen ist jedoch alles andere als glaubwürdig: Denn nicht Saudi-Arabien, sondern Iran verbuchte 2015 die weltweit höchste Hinrichtungsrate. So ist es kaum an Ironie zu übertreffen, dass eine Theokratie, die ihre Opponenten hinrichtet, einer anderen Theokratie genau dies vorwirft. Derweil beeilte sich Irans zentristischer Präsident, die Angriffe auf die diplomatischen Vertretungen der Saudis zu verurteilen und dafür „extremistische Einzelpersonen“ verantwortlich zu machen.
Zweifellos spielt diese neue Eskalation Hardlinern auf beiden Seiten in die Hände. Jene, die in der Islamischen Republik Iran aufgrund des Annäherungsprozesses an den Westen um ihre politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Pfründe fürchten, wollten sich die Chance nicht nehmen lassen, die Annäherung zu stören. Zudem kann die saudi-arabische Massenhinrichtung durchaus als gezielte Provokation verstanden werden, da eine allzu harsche Reaktion Irans hätte instrumentalisiert werden können, um die Implementierung des Atomdeals doch noch zu torpedieren.
Unvereinbare geopolitische Ziele
Wohlgemerkt, die iranisch-saudische Rivalität ist nicht konfessioneller Natur und auch keine Fortsetzung einer „uralten Feindschaft“ zwischen den sunnitischen und schiitischen Abzweigungen des Islam. Vielmehr ist diese Lesart seit jeher Bestandteil einer imperialen Teile-und-Herrsche-Politik, die zuletzt in den Jahren nach 2000 Hochkonjunktur hatte. Die gewaltsame Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein durch die USA 2003 und die darauffolgende Zerschlagung des irakischen Staates hat einem iranischen Machtzuwachs den Boden bereitet. Saudi-Arabien reagierte darauf mit einem immer aggressiveren anti-iranischen und sektiererisch anti-schiitischen Diskurs. Zudem hat es Riad versäumt, im Irak politischen Einfluss auszuüben.
Das große Problem zwischen Iran und Saudi-Arabien besteht somit nicht in einem konfessionellen Konflikt, sondern darin, dass beide Staaten unvereinbare geopolitische Ziele verfolgen. Beide erheben den Anspruch auf die regionale Vormachtstellung und auf die Führungsrolle in der islamischen Welt – maximalistische Positionen, die eine Konfrontation naturgemäß heraufbeschwören. Die Rivalität wird dabei durch die Abwesenheit einer Sicherheitsarchitektur und den Staatszerfall in der Region verschärft.
Die gegenwärtigen Spannungen sind indes Symptom einer sich verändernden regionalen Machtbalance: In dem Maße, wie Iran im vergangenem Jahrzehnt zur stärksten Macht in Westasien avanciert ist und sich nun dem Westen annähert, fürchtet Saudi-Arabien um seine Stellung als Hauptpartner des Westens am Golf und all die damit verbundenen Privilegien. In Riad herrscht deswegen viel Furor, aber auch Panik. Die Vereinigten Staaten hätten den Iranern die Region auf dem Silbertablett präsentiert, heißt es, und dabei die Interessen ihrer saudischen Verbündeten mit Füßen getreten. Saudi-Arabien zog daraus die Lehre, seinen Machtanspruch im Alleingang und nicht mehr immer in Abstimmung mit Washington durchzusetzen. Die Unterstützung radikalislamistischer Gruppen in Syrien ist das beste Beispiel für diese Tendenz.
Irans Regierung wiederum hat es nun mit gewaltigen Herausforderungen zu tun. Die Annäherung an den Westen steht unter äußerst schwierigen regionalpolitischen Vorzeichen. In westlichen Kreisen ging man davon aus, dass sich der Atomdeal entspannend auf die Region und die iranische Innenpolitik auswirken würde. Das mag mittel- und langfristig der Fall sein, kurzfristig hat der Deal aber eine genau entgegengesetzte Dynamik entfaltet. So konnte die politische Repression in Iran unter dem Schirm der Annäherung an den Westen sogar forciert werden. Mittlerweile ruft die sich verschlechternde Menschenrechtslage im Land keinerlei nennenswerte Proteste aus westlichen Hauptstädten mehr hervor. Zugleich hat das Atomabkommen die ohnehin grassierenden anti-iranischen Ressentiments bei wichtigen politischen Akteuren in der Region verstärkt, nicht nur in Saudi-Arabien, sondern auch in Israel. Diese beiden traditionellen Verbündeten der Amerikaner betrachten Iran seit der diplomatischen Einigung im Juli 2015 mit noch schärferen Argusaugen. Sie befürchten, dass Washington Iran als neuen Hauptverbündeten in der Region auserkoren hat und der iranischen Regionalpolitik freie Hand lassen will.
Derweil besitzt die EU durchaus Mittel, um auf das saudische Herrscherhaus einzuwirken. Eine ernsthafte Umkehr bei den Rüstungsexporten wäre beispielsweise ein längst überfälliger Schritt in einer Region, die politisch und militärisch einem Pulverfass gleicht. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen und politischen Bedeutung für Iran besitzt die EU durchaus Möglichkeiten, auch auf Teheran Einfluss auszuüben. Hier sollte auf die Verbesserung der desolaten Menschenrechtssituation in Iran und auf Änderungen der sektiererischen Syrien- und Irak-Politik Teherans hingewirkt werden.
Die Rolle des Westens bleibt zwiespältig
Eine politische Lösung der vielen Konflikte in der Region dürfte mit der Zeit in immer weitere Ferne rücken, da Saudi-Arabien und Iran ihren hegemonialen Wettbewerb eher noch verschärfen werden. Dies wirkt sich bereits jetzt beim Kampf gegen Daesh/IS aus. So muss das von Riad gebildete „sunnitische“ Militärbündnis seine Ernsthaftigkeit erst noch unter Beweis stellen. Denn solange die Auseinandersetzung mit Iran für Saudi-Arabien eine höhere Priorität genießt als der Kampf gegen Daesh/IS, solange wird Riad weiterhin gegen den iranischen Einfluss gerichtete radikalislamistische Gruppierungen unterstützen oder zumindest dulden.
Für den Westen bedeutet all dies, dass der ohnehin komplizierte Spagat zwischen der Annäherung an Iran und dem business as usual mit Saudi-Arabien noch schwieriger wird. Es rächt sich nun, dass man lange Zeit keine Gesamtstrategie für die Region verfolgt hat, die – notfalls durch Druck von außen – eine inklusive Sicherheitsarchitektur implementiert hätte.
So bleibt die Rolle des Westens zwiespältig. Die lukrativen Waffengeschäfte mit den Scheichtümern am Golf – eine Art Recycling der dortigen Petrodollars – sind nicht ohne den Verrat demokratischer Werte zu haben. Hinzu kommt ein weiteres massives Glaubwürdigkeitsproblem: Die jüngste Geschichte und zuletzt das Rapprochement mit der Islamischen Republik Iran haben gezeigt, dass der Westen zu Menschenrechtsverletzungen schweigt, wenn autoritäre Regime als Partner fungieren. Dies ist auch bei den Beziehungen zu Ägypten und der Türkei zu beobachten. Gewiss, Realpolitik war noch nie auf moralische Maßstäbe angewiesen. Doch die Doppelmoral, die sich hier offenbart, wird sowohl auf zwischenstaatlicher als auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene registriert. Auch deswegen reicht es nicht aus, wenn das Auswärtige Amt behauptet, der Mittlere Osten sei „der Welt etwas schuldig“.
Jetzt wäre Selbstkritik angemessen
Vor einem Jahr betonte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeierauf der Jubiläumsfeier der Berliner Republik zu Recht, wie wichtig die Fähigkeit zur Selbstkritik sei: „Alle Außenpolitik beginnt mit Verstehen und Verständigung. … Gerade die Außenpolitik muss sich die Fähigkeit zur Selbstkritik bewahren. In einer Welt, die sich immer rasanter verändert und in der Krise immer mehr Normalfall statt Ausnahme ist, muss Außenpolitik in der Lage sein, die eigene Position ständig zu überprüfen und zu erneuern.“ Getreu diesem Leitmotiv kommt es heute darauf an, mit Versäumnissen der Vergangenheit aufzuräumen und neu darüber nachzudenken, wie regionale und nicht-regionale Akteure in notwendige Befriedungsprozesse eingebunden werden können. Die Nachhaltigkeit eines solchen Anliegens hängt davon ab, ob Sicherheits- und Entwicklungspolitik systematisch zusammengedacht werden – eine allzu leichtfertig vergessene Lehre aus den Arabischen Revolten. Eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZ) im Nahen und Mittleren Osten wäre das optimale Format, um beide Aspekte zusammenzubringen und sowohl die sozio-ökonomische Misere als auch das Sicherheitsdefizit anzugehen.
Dabei müsste geklärt werden, ob der Fokus solch einer KSZ auf der gesamten Region (inklusive Ägypten, der Türkei und Israel als regionaler atomarer Monopolmacht) oder auf dem Persischen Golf liegen sollte. Ganz gleich, wie die Entscheidung ausfällt, bietet sich ein zweigleisiges Vorgehen an: Als vertrauensbildende Maßnahme sollte mit „weichen Themen“ begonnen werden (Umweltschutz, Flüchtlingsproblematik, Ausbau des intra-regionalen Handels, nachhaltige Wirtschaftspolitik, Infrastrukturprojekte, Trinkwasser), bevor die „harten Themen“ der Sicherheits- und Militärpolitik behandelt werden. Bei Letzerem müssten die Vorteile des Konzepts der „gemeinsamen Sicherheit“ systematisch verdeutlicht werden – im Gegensatz zum bisherigen sicherheitspolitischen Nullsummenspiel.
Arrangements mit Diktaturen rächen sich
Solch eine Konferenz zu initiieren könnte auch die Aufgabe des neuen Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Stabilitätspartnerschaft Mittlerer Osten sein, durch die Deutschland seinen „politischen, humanitären und finanziellen Einsatz für die Region … in diesem Jahr massiv ausweiten“ will (so Außenminister Steinmeier aus Anlass der Ernennung des Sonderbeauftragten Joachim Rücker am 3. Januar). Generell muss es darum gehen, sich von einem Status quo ante zu verabschieden, in dem sich der Westen zur Aufrechterhaltung einer oft fragilen Ordnung mit Diktaturen arrangiert hat. Die westliche Wirtschafts- und Entwicklungspolitik sollte in Zukunft mehr auf soziale Verträglichkeit und Nachhaltigkeit achten, um der Gesamtbevölkerung zugute zu kommen, anstatt wie bisher allein die politischen Eliten zu stärken. Dies bedeutet auch, dass eine Revitalisierung der lukrativen Wirtschaftsbeziehungen mit Iran mit sozialdemokratischen Werten verknüpft werden sollte – nach dem Motto „Wandel durch Handel und Annäherung“.
Die Prokrastination der westlichen Politik rächt sich nun in einer Region, die zusehends aus den Fugen geraten ist. Die jüngste Eskalation des saudisch-iranischen Konflikts mag das Ziel einer inklusiven regionalen Sicherheitsarchitektur momentan als Wunschdenken erscheinen lassen. Doch wenn die durchaus schwierige gegenwärtige Lage als Vorwand herangezogen würde, auch weiterhin nichts für eine nachhaltige Sicherheitsarchitektur im Nahen und Mittleren Osten zu unternehmen, ist die nächste Eskalation nur eine Frage der Zeit.
QUELLE
Ali Fathollah-Nejad (2016) “Eine Region aus den Fugen” [A region unravelling], Berliner Republik: Das Debattenmagazin, Nr. 1/2016 (Februar), S. 29–31.